Rezension in der 'KI'

Der folgende Artikel wurde in der Kampfkunst International (KI), Ausgabe 3/2002 veröffentlicht und mit freundlicher Genehmigung des Autors Wolfgang Birkenstock abgedruckt (naja, da eigentlich 70% in diesem Artikel aus meinem Buch zitiert wurden, bin ich gewissermassen Mitautor)

Aus der Sicht des Ingeniuers

Ralf Pfeifer ist Maschinenbau-Ingenieur. Und aus der Sicht eines Ingenieurs hat er in seinem Buch "Mechanik und Struktur der Kampfsportarten" - erschienen im Verlag Sport & Buch Strauß - einen Blick auf die Kampfkünste geworfen. Obwohl er selber aktiv Arnis, Avci Wing Tsun und Avci Escrima betrieben und in diesen Stilen seine pratischen Erfahrungen gewonnen hat, sind die Aussagen in seinem Buch allgemeingültig für alle Kampfkünste, da er nicht einzelne Techniken, sondern grundlegende Zusammenhänge analysiert. Dabei versucht er, wie er in seinem Vorwort schreibt, "... mit zahlreichen Modellen und Überlegungen eine wissenschaftliche Basis aufzubauen, die einerseits Eigenheiten einer Vielzahl von Kampfstilen berücksichtigt und andererseits eine systematische Entwicklung eines kampfsportspezifischen Trainings erlaubt."

Zunächst erfolgt eine Gliederung des Kampfsports nach seinen unterschiedlichen Funktionen. Ein großer Teil des Buches widmet sich der Analyse von Bewegungen mit Hilfe der Physik. An Hand von zwei Textpassagen soll an dieser Stelle ein kleiner Einblick in das Buch gegeben werden, das als Dissertation an der Deutschen Sporthochschule in Köln angenommen wurde.

Zunächst die Charakterisierung und Gegenüberstellung von 'Kampfsport' und 'Kampfkunst', wie sie Ralf Pfeifer in einem einführenden Kapitel vornimmt:


... Die Definition des Begriffs 'Kampfsport' soll hier auf die sportliche, wettkampfmäßige Auseinandersetzung eingeengt werden und im Gegensatz zu dem stehen, was mit dem Begriff 'Kampfkunst' charakterisiert wird.

Die grundlegende Unterscheidung dieser Begriffe findet hier nach der Bedeutung von Regeln während des Kampfes statt:

  • Der Begriff 'Kampfkunst' bezeichnet eine Untermenge des Begriffes 'Kampf': Zu ↑Kampfkunst gehören alle Kämpfe, die ohne jede Regel, aber unmittelbar mit einem Gegner stattfinden.
  • Der Begriff 'Kampfsport' bezeichnet ebenfalls eine Untermenge des Begriffes 'Kampf': Zum Kampfsport gehören alle Kämpfe, die nach Regeln geführt werden und bei denen die Einhaltung der Regeln von einem unbeteiligten Dritten überwacht wird. 'Kampfsport' bezeichnet damit alle Formen des Kampfes, die sich zum sportlichen Wettkampf und Vergleich eignen.
    • Der Begriff 'Sportkampf' bezeichnet eine Untermenge des Begriffes 'Kampfsport': Zum Sportkampf gehören speziell die Kämpfe, die zum Kampfsport gehören und unmittelbar mit einem Gegner geführt werden.

Die Einführung des Begriffes 'Sportkampf' ist notwendig, weil eine Reihe von unterschiedlichen Wettkampfformen existieren, bei denen der Gegner in den Wettkampf nicht direkt eingreift, so z.B. beim Formenwettkampf (↑Form) oder dem ↑Duo-Wettkampf. 'Unmittelbar mit einem Gegner' soll hier bedeuten, dass die Kämpfer direkt aufeinander einwirken und jeder Kämpfer versucht, den anderen zu besiegen. Es gibt weitere Bereiche des Kampfes, aber vor allem die Bereiche des Kampfes mit einem Gegner (also Kampfkunst und Sportkampf) sind für eine physikalische Analyse von Techniken prädestiniert.

Die grundlegenden Unterschiede

Nach den bisher getroffenen Begriffsdefinitionen unterscheiden sich Kampfkunst und Sportkampf hinsichtlich der Gültigkeit von Regeln. Daraus folgen verschiedene Konsequenzen z.B. für das Ziel des Kampfes:

  • In der ↑Kampfkunst ist der Kampf gefährlich und die Folgen für die eigene Gesundheit auch im Falle eines Sieges unabsehbar. Wer hier kämpft, der kämpft nicht aus Spaß, sondern weil die Umstände sonst zu einer noch gefährlicheren Situation führen würden. Der Kampf in der Kampfkunst dient immer einem Zweck, der Kampf ist nur das Mittel, um den Zweck zu erreichen, falls andere Mittel versagt haben. Diese Definition der Kampfkunst ist äqivalent zur Definition des Krieges nach CARL VON ↑CLAUSEWITZ: Er sieht den Krieg nicht als Selbstzweck an, sondern als ein Mittel der Politik. Ein Krieg wird nicht einfach so begonnen, sondern für die Politik ist der Krieg ein Werkzeug, um politische Ziele zu erreichen.
  • Im normalen Sportkampf geht es um den Vergleich mit anderen unter definierten Bedingungen (Regeln). Der erhoffte Sieg ist das Ziel des Kampfes, darüber hinaus gibt es meist keine weiteren Ziele - Werbeeinnahmen und Preisgelder haben im Sportkampf derzeit kaum Bedeutung.

Der Grieche Herodot erkannte ganz allgemein dem sportlichen Wettkampf Kulturstatus zu. Herodot versuchte herauszufinden, was die Barbaren - er meinte damit die Perser - von seinem eigenen Volke unterschied.

...

Auch der Begriff 'Sport' selbst beschreibt den Unterschied von Sportkampf zu Kampfkunst gut, denn er leitet sich vom lateinischen 'sich belustigen', 'ergötzen' (lat. 'de sportare') ab.

Dort, wo Regelwerke vorliegen, unterscheiden sie sich erheblich in ihrer Dauerhaftigkeit:

  • Beim Sportkampf kann es beliebig modifiziert werden, um erwünschte Verhaltensweisen und Techniken zu fördern oder um unerwünschte Verhaltensweisen abzustellen. Mit den Regeln ändert sich auch das Unterrichtsprogramm.
  • In der Kampfkunst gibt es kein Regelwerk, die Art und Wirkung verschiedener Angriffsformen werden nur von der Anatomie und Phantasie des Individuums begrenzt.

Weil sich die Menschen in den letzten 10000 Jahren kaum verändert haben, gibt es in der Kampfkunst kaum Neuerungen bei den eigenen Angriffstechniken, denn Kehlkopf, Augen oder Genitalbereich bleiben immer empfindliche Ziele. Dies heißt jedoch nicht, dass es ein endgültiges Unterrichtsprogramm in der Kampfkunst geben könnte, denn im Laufe der Zeit muss es immer wieder auf gerade populäre Sportkampfarten abgestimmt werden. In der Kampfkunst muss die Wirksamkeit der eigenen Verteidigungstechniken regelmäßig gegen neue, im Sportkampf erprobte Angriffsformen geprüft werden.

Bei der mentalen Konditionierung der Schüler gibt es einen weiteren, erheblichen Unterschied zwischen Kampfkunst und Sportkampf:

  • In der ↑Kampfkunst muss der Schüler so weit gebracht werden, dass er in einer echten Notwehrsituation (↑Notwehr) - und nur dann - moralische Hemmungen aufgibt, um mit allen Mitteln (auch sog. 'schmutzige Tricks') einen möglicherweise lebensbedrohenden Angriff von sich oder anderen abzuwenden.
  • Im Sportkampf muss der Schüler dazu gebracht werden, dass er auch in der aussichtslosesten Lage immer noch die moralische Kontrolle (= Fairness) über sein Handeln behält (z.B. nicht beim Boxen beißen.)


Bei seinen mechanischen und physiologischen Betrachtungen nimmt der Fauststoß im Buch Ralf Pfeifers eine hervorgehobene Stellung ein, zu dem er auch experimentelle Untersuchungen hinsichtlich der Schlagkraft durchführte. Im zweiten Buchauszug geht es um die Frage, wie eine Schlagwirkung analysiert und bewertet werden kann:


Überall, wo ein Angriff mit Kraft ausgeführt werden muss, ist der Einsatz des Körpers wichtig. Um die 'Durchschlagskraft' der waffenlosen Techniken zu optimieren, darf man nicht nur 'aus dem Arm heraus' schlagen, sondern man muss 'aus dem Körper heraus' arbeiten, d. h. man muss den ganzen Körper einsetzen.

Beispiel: Wenn man ein Beil auf einen Holzscheit wirft, wird das Beil im Holz stecken bleiben, aber egal wie schnell es geworfen wird, ist es meist nicht in der Lage, das Holz zu spalten. Der erfolgreiche Holzhacker wird das Beil festhalten und es mit dem ganzen Körper durch den Holzscheit drücken.

Das Werfen des Beiles kann man mit dem Fauststoß eines Sportkämpfers in einem Leichtkontakt-System vergleichen: Der Fauststoß erfolgt schnell und ohne Körpereinsatz, der Sportkämpfer bekommt seinen Punkt, aber der Fauststoß wird den Gegner nicht ernsthaft in seiner Kampffähigkeit beeinträchtigen. Der Bewegungsablauf beim richtigen Holzhacken kann man mit dem Körpereinsatz des Vollkontakt-Kämpfers oder Kampfkünstlers vergleichen, der seinen Gegner kampfunfähig oder ↑KO schlagen will.

Doch wie wichtig ist der Körpereinsatz! Welche physikalische Größe ist ein Maß für die Schlagkraft!

Wenn man die richtige physikalische Größe kennt, so lassen sich daraus Rückschlüsse für geeignete Trainingsziele gewinnen. In der Literatur werden damit regelmäßig zwei Größen in Verbindung gebracht: Impuls und Energie.

Was die Betrachtung erschwert, ist die Tatsache, dass Energie und Impuls von den gleichen Größen abhängen, nämlich Masse und Geschwindigkeit. Die bekannten Gleichungen für diese beiden physikalischen Größen lauten:

(1) 

Kinetische Energie 

E = ½·m·v²

(2) 

Impuls

p = m·v

(Betrag des Impulses)

Was ist wichtiger: Schnelligkeit oder Körpereinsatz!

Wenn Masse und Geschwindigkeit gegeben sind, steht sowohl die kinetische Energie als auch der Impuls fest. Wenn man den Impuls vergrößert, vergrößert sich auch die Energie und umgekehrt. Die entscheidende Frage für das Training ist jedoch, auf welche Größe man beim Training mehr Wert legen sollte: Auf einen verbesserten Einsatz der Körpermasse oder eine höhere Schlaggeschwindigkeit.

  • Falls es so wäre, dass die Schäden am Gegner mit der Energie zunähmen, dann würde das bedeuten, dass die Geschwindigkeit quadratisch zum Wachstum der Schäden beiträgt, während die Schäden durch größeren Masseneinsatz nur linear zunähmen. Für die Trainingspraxis würde daraus folgen, dass es wichtiger wäre, die Schnelligkeit des Schlages zu trainieren, als den Körpereinsatz.
  • Falls es jedoch so wäre, dass die Schäden am Gegner mit dem Impuls zunähmen, dann würde das bedeuten, dass der Einfluss von Geschwindigkeit und Masse auf die Höhe der Schäden gleichberechtigt ist. Für die Trainingspraxis müsste daraus folgen, dass es wichtiger wäre, den Körpereinsatz zu trainieren, denn die Masse des Rumpfes ist im Vergleich zu den schlagenden Armen bzw. Beinen viel größer, so dass die Schlagkraft leichter durch richtigen Körpereinsatz als durch einen schnelleren Schlag zu erhöhen wäre.

Die Energie in der Literatur

Meist wird in der Literatur über Kampfkunst oder Sportkampf die Formel für die kinetische Energie als gültig betrachtet . Daraus leiten die verschiedenen Verfasser dann her, dass die Geschwindigkeit viel stärker (nämlich quadratisch) in die kinetische Energie eingeht, als die Masse, weshalb es bei Techniken vor allem auf die Geschwindigkeit ankommen soll. Offen oder versteckt wird dann der Zusammenhang 'Schlagkraft = Energie' hergestellt und manchmal auch noch qualitativ vorgerechnet, dass aus doppelter Geschwindigkeit die vierfache (nicht näher differenzierte) Schlagkraft resultiert, während eine Verdoppelung der Masse nur eine Verdoppelung der Schlagkraft bewirke.

Bei dieser Rechnung wird jedoch gerne übersehen, dass sich einerseits die Geschwindigkeit der Angriffsbewegung eines Kämpfers nicht beliebig steigern lässt und andererseits die Masse des übrigen Körpers so groß ist, dass Körpereinsatz auch bei geringer Geschwindigkeit des Körpers einen erheblichen Anteil zur physikalischen Wirkungskomponente eines Schlages leisten kann. In Rumpf (43 %) und Kopf (7 %) ist etwa die Hälfte der Körpermasse konzentriert, während ein Arm nur etwa 6 % der Körpermasse besitzt. Kopf und Rumpf sind also mehr als 8 × schwerer als ein Arm und wenn Kopf und Rumpf etwa 35 % der Armgeschwindigkeit haben, verdoppelt sich die Energie des gesamten Körpers. Diese Überlegung geht davon aus, dass sich Ober-, Unterarm genauso schnell wie die Hand bewegen. Tatsächlich hat der Arm ein Geschwindigkeitsgefälle, wobei sich die Schulter so langsam wie der Oberkörper bewegt, während die Faust am schnellsten ist. Die Energie des bewegten Armes ist deshalb geringer, als es seinem Gewichtsanteil von 6 % entspricht, daher wird der Einsatz des Oberkörpers für ein schlagkraftorientiertes Training noch wertvoller.

Die physikalische Realität: Der Impuls

Tatsächlich lässt sich mit einigen einfachen Überlegungen zeigen, dass der Impuls und nicht die Energie die relevante Größe ist. Dazu beginnt man mit folgender Frage:

Was ist über einen Schlag bekannt?

  • An der Trefferstelle besteht ein ↑Gleichgewicht der Kräfte, hier gilt das 3. ↑NEWTONsche Axiom ('actio = reactio').
  • Kräfte entstehen durch die zeitliche Änderung des Impulses (2. ↑NEWTONsches Axiom).
Über die Energie, ↑Energieerhaltung oder Impulserhaltung lassen sich während eines Schlages ohne Messtechnik keine sicheren Aussagen machen, doch die beiden ersten Aussagen reichen, um den Zusammenhang der Größen in Bild 3-26 darzustellen. Aus Gründen der Übersichtlichkeit deuten Klammern verschiedene Ebenen an, welche die Zusammengehörigkeit der physikalischen Größen wiedergeben. Die Betrachtung in Bild 3?26 beginnt an der Kontaktstelle von Angreifer und Verteidiger. Verfolgt man die physikalischen Größen in der Grafik von der gestrichelten Linie an abwärts (um die Wirkungen zu ermitteln) und aufwärts (um die Ursachen herauszufinden), so ergeben sich für die Ebenen (1)...(5) folgende Zusammenhänge:
  1. Vor dem Kontakt besitzen beide Körper einen Impuls.
  2. Die Kraft entsteht aus bzw. wächst mit der zeitlichen Änderung der Impulse (2. ↑NEWTONsches Axiom). Je größer die zeitliche Änderung der Impulse, umso größer ist die wirkende Kraft. Eine schnellere Änderung des Impulses und die daraus folgende Vergrößerung der Kraft kann auf zwei Arten erfolgen:
    • Durch Verkürzung des Bremsweges, also wenn das auftreffende Körperteil (z.B. Faust) möglichst schnell abgebremst wird. Bei 'hart auf hart' entstehen größere Kräfte als bei 'weich auf weich'.
    • Wenn die beiden Körperteile im Augenblick vor dem Aufeinandertreffen einen möglichst großen Impulsunterschied haben.
  3. An der Kontaktstelle besteht Kräftegleichgewicht (↑Gleichgewicht). Dies folgt aus 'actio = reactio' (3. ↑NEWTONsches Axiom).
  4. Die Kraft wird über eine Kontaktfläche übertragen, welche zusammengenommen mit der Größe 'Druck' beschrieben werden kann. Der maximal erträgliche Druck ist eine zweckmäßige und weit verbreitete Größe, die in der Technik zum Vergleich der Haltbarkeit vieler Werkstoffe benutzt wird.
    Der Druck ist das Verhältnis von Kraft und Kontaktfläche:
    • Der Druck steigt mit der wirkenden Kraft.
    • Der Druck steigt, wenn sich die Fläche, durch welche die Kraft wirkt, verkleinert. Der lokale Druck kann durch die Wahl des Angriffswerkzeuges (Stock ist besser als Faust, Klinge ist besser als Stock) und durch die Auswahl des Ziels (Kinn ist besser als Bauch) verstärkt werden.
  5. Knochen brechen, Zellen platzen und Blutgefäße reißen, weil die physikalische Größe Druck zu groß wird und Strukturen überlastet.

Bild 3-26
Bild 3-26: Verkettung der physikalischen Größen


Zu beziehen ist "Mechanik und Struktur der Kampfsportarten" im Buchhandel (ISBN 3-89001-243-4). Preis: 30,50 EUR. Zusätzliche Informationen zum Buch sind auch auf der Homepage von Ralf Pfeifer zu finden (www.ArsMartialis.com).