Bodenkampf in der Selbstverteidigung?

Vor kurzem habe ich an einer Diskussion im Web teilgenommen, das Thema war: „Bodenkampf, Hebel und Würger zur Selbstverteidigung - ...machbar oder blanke Illusion?“ Die Antworten schwankten zwischen 'absolut bedeutungsvoll' bis 'hat hier nichts zu suchen'. Die folgende Analyse soll zeigen, wie man systematisch eine überzeugende Antwort finden kann.


Was ist eigentlich Bodenkampf?

Manchmal steht am Ende einer Webseite mit Hilfe-Texten die Bitte um eine Bewertung: „War diese Antwort hilfreich für Sie?“. Auch beim Thema Bodenkampf in der Selbstverteidigung kommt es zu Aussagen wie „Hebeln am Boden? Das ist nichts für die Selbstverteidigung!“ oder „Es kommt auf die Situation an!“ oder „Mach was gerade geht und nicht was du gerade möchtest!“ Ob das jetzt hilfreich war? Nun, ich könnte da eine klare Bewertung abgeben …

Wenn solche Fragen sehr kontrovers diskutiert werden, hilft es oft, wenn jemand noch mal nachfragt, ob denn alle das Gleiche meinen, wenn sie diskutieren. Daher möchte ich zunächst einmal aufzählen, was nach meiner Meinung zum Bodenkampf gehören könnte:

  1. Hebeln und Würgen

  2. Den Eingang in einen Hebel und Würger erkennen und rechtzeitig abwehren

  3. Wenn's schon passiert ist: Aus einem Hebel oder Würger entkommen

  4. Schlagen am Boden: Faust, Ellbogen, aber auch Fingerstiche, Knie- und Kopfstöße

  5. Abwehr dieser Angriffe, Konter

  6. Jemand liegt auf mir drauf und ich komme nicht weg

  7. Wie (6), zusätzlich schlägt er mich

  8. Ich liege auf jemandem drauf und er kann nicht weg

  9. Wie (8), zusätzlich schlage ich ihn (natürlich nur zu seinem Besten)

  10. Ich übe das Fallen / Fallschule

Im Sinne der von mir entwickelten Struktur der Kampfsportarten (daher stammen auch einige der folgenden Begriffe wie Sportkampf oder polizeiliche Eingriffstechniken) gibt es nun eine Reihe von Fällen, auf welche dieser Katalog in unterschiedlicher Zusammensetzung zutrifft:

Bodenkampf muss aber nicht immer am Boden stattfinden. Wesentliches Merkmal ist ja nicht der Boden, sondern die Kampfposition. Bei bestimmten Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung (Juristendeutsch für sexuelle Nötigung und Vergewaltigung, §177 StGB) beginnt der Kampf nicht unbedingt am Boden und er fängt nicht mit einer klaren Angriffstechnik an, zumal die Täter oft aus dem Bekannten-, Freundes- und Familienkreis kommen. Damit liegt der Punkt, an dem sich das Opfer zur Gegenwehr entschließt, ebenfalls nicht in der Faustdistanz, sondern oft genug in einer Distanz mit großflächigem Körperkontakt, also in einer Situation, in der ein paar Bodenkampftechniken bestimmt gut anwendbar wären.

Warum geht es zu Boden?

Wenn es um einen Kampf geht, der im Stand beginnt, dann wirkt auch hier -das ist trivial- die Schwerkraft, wie immer und überall. Sie ist in ihrer Wirkung nach recht einfach: Es geht immer nach unten. Wir als Menschen haben jedoch keinen stabilen Stand, dazu müssten wir wenigstens 3 Beine haben und diese sollten steif sein und starr mit dem Körper verbunden.

Tatsächlich werden aber unsere Gelenke über die Muskulatur aktiv bewegt oder fixiert. Dazu bedarf es in regelungstechnischem Sinn einer komplexen Regelung, die mit einer gewissen Geschwindigkeit die Änderung der Gleichgewichtslage verfolgt (über Rezeptoren misst) oder kognitiv aus der Kampfsituation vorhersagt. Aufgrund dieser Erkenntnisse macht der Regler eine Vorhersage über Maßnahmen, die der Störung entgegenwirkt und ein Gleichgewicht im Stand erhält. Ist der Regler jedoch zu langsam (=sind wir von der Situation überfordert), dann versagt er und wir fallen. Wenn der Regler ausfällt (= KO) oder klemmt (=angeknockt) oder die überlagerte Bewegung zu komplex war (= beim Tritt aus dem Gleichgewicht geraten), dann ist der Fall zu Boden eine natürliche Folge.

Wie wichtig ist die Fallschule?

Häufiger Bestandteil des Trainings ist die Fallschule. Sie wird allgemein als wichtig erachtet und gelegentlich hört man bei der Selbstverteidigung den Satz „ich kann mich nicht einfach so wehren, denn ich weiß ja nicht, ob mein Gegner fallen kann“. Ob man für einen Angreifer in dieser fürsorglichen Art mitdenken müsste, soll nicht Thema dieses Beitrages sein.

Aber fragen wir uns doch, warum die Natur in Jahrmillionen eine andere Art zu Fallen entwickelt hat, als wir es in den Kampfsportvereinen erlernen? Meine Theorie dazu habe ich in meiner Dissertation ausführlicher dargelegt. Vermutlich sind wir in der Urzeit gar nicht so oft gefallen, jedenfalls nicht viel häufiger als wir es heute im Alltag tun. Wahrscheinlich fallen wir in einem Monat mit intensivem Wurftraining zur Prüfungsvorbereitung viel häufiger, als der Urmensch im ganzen Leben gefallen ist. Daher ergibt sich für den Nutzen der Fallschule diese beispielhafte Zuordnung:

Wie August Neumaier (Prof. für Bewegungslehre/Biomechanik an der Uni Bochum) schreibt, übernimmt das natürliche Notprogramm ohnehin die Kontrolle, wenn die Situation zu überraschend ist. Das natürliche Fallprogramm läßt sich nicht wegtrainieren und startet, wenn die antrainierten Programme nicht mehr rechtzeitig ausgelöst werden, automatisch. Man muss also in der Selbstverteidigung nicht auf die Fallschule des Gegners Rücksicht nehmen. Durch seine natürlichen Fähigkeiten ist er für diesen Fall bestens vorbereitet.

Fazit

Der Bodenkampf ist nicht nur Bestandteil bestimmter Sportkampfstile, sondern er muss auch in der Kampfkunst berücksichtigt und trainiert werden. Für die Kampfkunst muss aber daran erinnert werden, dass der Kampf möglichst früh und möglichst in der vorhandenen Situation gewonnen werden soll. Es wäre ein zusätzliches Risiko, gegenüber dem Bodenkampf andere Techniken zu vernachlässigen, weil man mit einem Gegner ja immer zu Boden gehen könnte. Der Bodenkampf kann durchaus auch Nachteile haben, beispielsweise wenn es sich um mehrere Gegner handelt oder der Angreifer genau am Boden seine Stärken hat.

In der Kampfkunst sollte man darauf achten, dass -im Vergleich zum sportlichen Wettkampf- gelegentliches Fallen ausreicht und die Fallschule nicht zum Selbstzweck oder bestimmenden Trainingsbestandteil wird.